Markov-Kolloquium (2021)

Das Kernanliegen der Walter-Markov-Kolloquien seit 2020 ist es, die Erzählungen eines politischen Umbruchs 1989/90 und der Nachwendezeit als »Einheits- und Erfolgsgeschichte« einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Unser Interesse ist nicht allein Selbstzweck: Wir wollen die »langen Linien« der DDR und des politischen Umbruchs 89/90 hinter den Erfolgserzählungen aufzeigen, verstehen und diskutieren– nicht zuletzt auch in Bezug auf jene, die diese Zeit nicht mehr erlebt haben.

Im Jahr 2021 haben wir vier Autor*innen eingeladen, ihre Perspektive auf historische Macht- und Geschlechterverhältnisse zu beschreiben und aus diesen Beiträgen jeweils Faltblätter (Poster) gemacht. Die dort veröffentlichten Texte findet ihr hier noch einmal digital.


Lesben im großen Strudel
von Maria Bühner

„Dann aber überschlugen sich die politischen Ereignisse und wir gerieten mit in den großen Strudel (…). Es war faszinierend und beängstigend zugleich“, erinnert sich die Autorin und Aktivistin Bärbel Klässner an den Herbst 1989. Diese Ambivalenz findet sich in den Berichten vieler Zeitzeug*innen, die in der DDR-Lesbenbewegung aktiv gewesen waren.
Lesbengruppen wurden in den 1980er Jahren als Reaktion auf die schwierigen Lebensbedingungen gegründet. Zwar hatten die Erwerbstätigkeit von Frauen* und das liberale Scheidungsrecht Lücken für gleichgeschlechtliche Beziehungen mit und ohne Kinder geschaffen, doch es fehlte an Sichtbarkeit, Treffpunkten, rechtlicher Absicherung, Wohnraum, gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Schutz vor den allgegenwärtigen Diskriminierungen. Die rechtliche Situation war widersprüchlich. Die Streichung des §175 StGB 1968 war ein wichtiges Signal. Doch mit dem gleichzeitig neugeschaffenen §151 galt nun für „sexuelle Handlungen“ zwischen Personen gleichen Geschlechts ein „Schutzalter“ von 18. Das machte jungen Frauen* das Coming Out schwer. Mit dem §249, dem „Asozialitätsparagraphen“, gab es ein weiteres Werkzeug um „deviante“ Frauen* zu kriminalisieren.
Hinzu kam die Kriminalisierung politischer Arbeit außerhalb staatlicher Strukturen durch die Staatssicherheit. Dem zum Trotz fanden unter dem Dach der evangelischen Kirche und später auch in Kultur- und Jugendklubs regelmäßige Treffen statt. Die Gruppen machten weibliche* (Homo-)sexualität zu einem politisch relevanten, mitunter auch systemkritischen Thema. Es gelangt den Aktivist*innen, in wenigen Jahren ein starkes Netzwerk aufzubauen, Verbesserungen wie etwa die Abschaffung des §151 und die Aufhebung des Verbots gleichgeschlechtlicher Kontaktanzeigen zu erkämpfen.
1989 brachte tiefgehende Veränderungen, wobei nun auch die schon von Klässner angesprochene Ambivalenz zu Tage trat: Die Legalisierung der politische Arbeit eröffnete viele neue Möglichkeiten. Gleichzeitig jedoch waren der Zusammenschluss mit der Bundesrepublik und besonders die damit verbundene Rechtsangleichung eine Bedrohung: Grundlegende (frauen*-)politische Rechte und Positionen sollten außer Kraft gesetzt werden. Hinzu kam der massive Anstieg von Erwerbsarbeitslosigkeit, von dem Frauen* stärker betroffen waren.
Überall versuchten Aktivist*innen frauen*- und lesbenpolitische Forderungen in die in Bewegung geratenen politischen Verhältnisse einzubringen und zu verankern — unter dem Druck sich stetig verändernder Bedingungen. Lesbische Aktivist*innen beteiligten sich an neu entstehenden feministischen Gruppen wie der lila offensive oder der Leipziger Fraueninitiative. Über ihre Mitgliedschaft im Unabhängigen Frauenverband konnten Eva Schäfer, Pat Wunderlich, Christian Schenk und andere an den Sitzungen des Zentralen Runden Tischs teilnehmen. Sie sorgten u.a. dafür, dass der Schutz gegen Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung und von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften in den Verfassungsentwurf des Runden Tisches einging, der jedoch bereits 1990 abgelehnt wurde. Auf kommunaler und landespolitischer Ebene wurden an den Runden Tischen lesbenpolitische Forderungen stark gemacht und zum Teil gegen Widerstände durchgesetzt — so wurde die Stelle für eine Lesbenbeauftragte in Leipzig geschaffen oder das Verbot der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Identität in den Verfassungen von Brandenburg und Thüringen aufgenommen. Viele Forderungen jedoch gingen im Angesicht des frauen*politischen Desasters verloren.
Neben der parlamentarischen Arbeit wurden feministische, zum Teil auch explizit lesbische, Projekte und Räume in Ostdeutschland gegründet und existieren teilweise noch heute. Sie sind die wichtigste Errungenschaft und das Vermächtnis der Aktivist*innen. Diese Räume mussten zu Beginn der 1990er Jahre auch immer wieder gegen Angriffe von Neonazis verteidigt werden. Dafür organisierten sie sich mit anderen Gruppen und zeigten einmal mehr wie wichtig Solidarität für politische Kämpfe ist.


Wer ist dieser Ostmann?
Von Jonas Brückner

Wenn heute über „ostdeutsche Männer“ gesprochen wird, werden häufig zwei sehr unterschiedliche Typen ins Feld geführt. Auf der einen Seite steht der frustrierte Nazi und auf der anderen der Partner und Familienvater, der eigentlich viel emanzipierter sei als sein westliches Pendant. Die scharfe Gegensätzlichkeit macht stutzig, wie ist er denn nun, der „Ostmann“ und wo kommt der her? Sicher ist im Laufe des Bestehens der DDR in den Geschlechterrollen und -arrangements einiges in Bewegung gekommen. Das betrifft vor allem die staatlich forcierte, und auch weitgehend angenommene, größere materielle Unabhängigkeit von Frauen. Viele Männer übernahmen das Ideal von Frauengleichberechtigung in der produktiven Arbeit, während zugleich auch die reale Bedeutung der männlichen Alleinernährerrolle schwand. In Partnerschaften mit i.d.R. zwei voll lohnarbeitenden Menschen war ganz pragmatisch zumindest etwas mehr Haus- und Pflegearbeit von Männern zu leisten. Zudem war es Männern in einer materiell von Mangel geprägten, aber auch recht egalitären Gesellschaft weniger möglich und bald auch weniger nötig, sich durch Status hervorzutun. Auch offen autoritäres Auftreten gegenüber Frauen nahm tendenziell ab, was nicht heißt, dass häusliche und sexualisierte Gewalt in der DDR keine Rolle spielte. Darüber hinaus blieb männliche Vorherrschaft strukturell gesehen jedoch unangetastet, allein schon in Hinsicht grundsätzlich weiterbestehender, sexistischer „Arbeitsteilung“ in Produktion und Reproduktion. Erste Ansätze zu neuen Männlichkeitsrollen in Partner- und Vaterschaft in der späten DDR blieben unverbunden und unaussprechbar neben traditionellen Selbstbildern stehen. Männliche Dominanz verschwand nicht, sie wurde subtiler. Die Öffnung der Grenzen 1989 und der Beitritt zur Bundesrepublik 1990 bedeutete einen schlagartigen innergesellschaftlichen, kulturellen und ökonomischen Umbruch, der sich auch auf Geschlechterverhältnisse erstreckte. Proletarisch geprägte DDR-Männlichkeiten standen plötzlich im Verhältnis zur konkurrenzerprobten, statusbezogenen und durchsetzungsfähigen „transnational business masculinity“, die auch schnell die Spielregeln änderte und nun bestimmte, was als erfolgreich und erstrebenswert gilt. Diese Konkurrenzsituation erzeugte einen Anpassungsdruck auf nun ostdeutsche Männer, dem sie nur schwer gerecht werden konnten. Die mit dem Umbruch einhergehende wirtschaftliche Unsicherheit konnte mittelfristig von den meisten bewältigt werden. Gleichzeitig dürfte die Erfahrung relativer Deklassierung ‚ostdeutscher‘ Männlichkeit in vielen Fällen eine Retraditionalisierung verstärkt haben, während die durchaus auch vorhandenen, zarten Modernisierungsansätze in DDR-geprägten Männlichkeitsrollen wenig sichtbar blieben. Insofern sind die eingangs erwähnten zwei Rollenbilder nicht falsch. Aber sie sind auch nur Teil eines Spektrums, in denen Männlichkeiten stets spezifisch nach jeweiliger sozialer Position und Zuschreibung wirksam werden. Männer, die in der DDR gelebt haben, können durchaus auch als Männer negativ vom Umbruch 89/90 betroffen worden sein. Aber es macht einen Unterschied, ob sie auf dem Land oder in der Stadt gelebt haben und wie alt sie sind und waren, ob sie hetero oder (mit heutiger Begrifflichkeit) queer oder ob sie in Karl-Marx-Stadt oder Maputo geboren sind. Deswegen sind sowohl verallgemeinernde Opfererzählungen als auch Heldengeschichten von „ostdeutschen Männern“ wenig hilfreich. Männliche Dominanzkultur, Sexismus, Frauenhass und Queerfeindlichkeit müssen auch hier weiterhin benannt werden – ganz egal ob sie aus einem marktkapitalistischen oder staatssozialistischen Hintergrund hervorgegangen sind.


Ostdeutsch und Trans*
Von Magdalena Sophia Sachs

Das Ministerium für Gesundheitswesen der DDR erließ 1976 die sogenannte Verfügung zur Geschlechtsumwandlung von Transsexualisten und gab dem Prozess des Geschlechtwechsels somit einen rechtlichen wie auch behördlich-medizinischen Rahmen. Dies erfolgte vier Jahre früher als in der BRD, wo 1980 das erste Transsexuellengesetz (TSG) verabschiedet wurde. Leistete die Politik der DDR hier einen emanzipatorischen Vorstoß, der als Errungenschaft für die Anerkennung vielfältigerer Geschlechtsidentitäten bewertet werden kann? Leider nein.
Zu dieser Beurteilung kommen Trans*Personen heute in Internetforen und Interviews, da eine öffentliche Bekanntmachung der Verfügung ausblieb und dessen Existenz der potenziellen Zielgruppe weitestgehend unbekannt war. Die wenigen Informationen richteten sich lediglich an den kleinen Fachkreis. So bot die Nervenklinik der Berliner Charité Trans*Personen die einzige medizinische Infrastruktur. Beratungsstellen waren nicht vorgesehen.
Mir wurde erzählt, dass das staatssozialistische Bild von Familie vielfältigere Geschlechtsidentitäten exkludierte. Entsprechend waren Trans*Personen in der Öffentlichkeit gänzlich unsichtbar. Es fehlten Vorbilder und beispielhafte Biografien, die eigene Unsicherheiten mit der Geschlechtsidentität positiv inspirieren und klären konnten. Für eine Sachsen-Anhaltinerin stellte die DEFA-Produktion Coming-Out von 1989, in denen Travestie-Künstler im Partygeschehen abgebildet wurden, ihren einzigen Berührungspunkt mit der Thematik Trans* in der DDR dar.
Alltagsrealitäten von Trans*Personen in der DDR waren unterschiedlich. Das Berliner Gründerzeitmuseum, dass die Szeneberühmtheit Charlotte von Mahlsdorf als Begegnungs- und Kulturraum in den 1970er Jahren zur Verfügung stellte, ermöglichte vielen Interessierten erste Vernetzung und Dialoge. Ab den frühen 1980er Jahren dockten junge Trans*Personen vor allem an Treffpunkten und Lokalen der Ost-Berliner Homosexuellenszene an, die jedoch nicht gefeit war vor trans*feindlichen Vorbehalten. Trotz staatlicher Widrigkeiten fanden sich über inhaltliche und somit zwangsläufig politisierte Veranstaltungen Gleichgesinnte und begründeten den bis heute bestehenden Sonntags-Club. Dessen Treffs sprachen zwar primär Homo- und Bisexuelle an, vertraten aber auch eine trans*offene Agenda. Parallel zu diesem Beispiel der Selbstorganisation aus der Hauptstadt stehen repressive Einweisungen in staatliche Jugendwerkhöfe und andere Zwangseinrichtungen. Betroffene berichten, dass hierbei das eigene Coming-Out und gesellschaftliche Stigmata eine Rolle spielten.
In den Umbruchsjahren 1989/90 erlebten ostdeutsche Trans*Personen ein gesondertes Ausmaß an struktureller Diskriminierung: Mit der westdeutschen Anpassung löste das TSG die bis dato bestehende Verfügung zur Geschlechtsumwandlung ab. In diesem Zuge erloschen alle unabgeschlossenen Verfahren zur Personenstandsänderung. Dies kam einem Beiseiteschieben jeglicher bisheriger Bemühungen der Antragstellenden gleich. Aktivist*innen jener Zeit beurteilten diese Veränderungsphase als übergestülpt, da weder die etwaige Kompetenz der Berliner Charité noch spezifisch ostdeutsche Kritik und Reformwüsche des strittig diskutierten TSG gefragt waren.
Neben dieser medizinisch-juristischen Sphäre verfestigten LSBTI*aktivistische Initiativen nach 1989 ihr bisheriges Engagement über Vereinsgründungen. Mit ihren legendären Feiern und ersten ostdeutschen Paraden zum Christopher Street Day gelang u. a. dem Dresdner Gerede e. V. und Leipziger Rosa Linde e. V. ein niedrigschwelliger Zugang. Gleichzeitig erkämpften sie so mehr Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit für eigene Themen und Bedarfe. Heute haben sich viele Vereine zusätzlich professionalisiert. Ihre Beratungs- und Gruppenangeboten bilden notwendige Peer-to-Peer-Anlaufstellen und das auch vermehrt im ländlichen Raum.


DDR-Frauen in der Wendezeit
von Renate Hürtgen

An den „unangemeldeten“ Demonstrationen im Oktober 1989 beteiligten sich gleichermaßen mutige Frauen und Männer. Frauen gingen jedoch nicht auf die Straße, um Frauenrechte zu erstreiten, sondern als Bürgerinnen eines „geschlossenen Landes“, in dem man wie frau keine Perspektive mehr für sich sah. Gab es denn keine Gründe, besondere Frauenrechte einzuklagen? Tatsächlich war die Gleichstellung in der DDR verfassungs- und privatrechtlich festgeschrieben, die Frauenerwerbsquote lag Ende der 1980er Jahre bei 90 Prozent. Das Leitbild der „Hausfrau“ und „Mutter“, das im Westen immer noch einen hohen Stellenwert hatte, war in der DDR längst dem der arbeitenden Frau gewichen, die „ihren Mann“ steht und ungeachtet aller Schwierigkeiten, Arbeit und Familie „unter einen Hut“ bringt. „Vater Staat“ unterstützte die DDR-Frauen dabei mit zahlreichen sozialen Zuwendungen. Die reale Ungleichbehandlung, die sich nicht nur in der fehlenden Präsenz von Frauen in Politik und Wirtschaft zeigte, verschwand hinter einem für Mann wie Frau vergleichbar organisierten Arbeitsleben und zu bewältigenden Alltag, der von Mangel und Improvisation bestimmt wurde. Das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis war damit in der DDR nicht aufgehoben, das „Patriarchat im Privaten“ verlor jedoch seine Dominanz. An seine Stelle trat ein „Patriarchalismus in Form des paternalistischen Staates“ (Eva Sänger, Begrenzte Teilhabe. Ostdeutsche Frauenbewegung und Zentraler Runder Tisch in der DDR, 2005).
Das aber ist die Crux: Kein einziges Recht haben DDR-Frauen selber erstritten, alles kam als „Geschenk“ von „oben“. Zudem fehlten staats- und parteiunabhängige Frauenorganisationen und ein Raum für Gegen-Öffentlichkeit, wo DDR-Frauen sich hätten verständigen können. Unter diesen Bedingungen konnte keine autonome Frauenbewegung entstehen. Dennoch gab es eine aktive Minderheit von DDR-Frauen, die im halböffentlichen Raum der Kirche bereits in den 1980er Jahren in informellen Frauen- und Lesbengruppen arbeiteten. Sie gehörten zum Kern des Aufbruchs 1989, der mit der Gründung des „Unabhängigen Frauenverbandes“ (UFV) die verschiedenen Anliegen bündeln und eine autonome Frauenbewegung begründen sollte. Die Verabschiedung einer Sozialcharta durch den UFV gehörte zu den wichtigsten Ereignissen vom Herbst 1989 in der DDR. Zu einer Sammlungsbewegung von DDR-Frauen oder einem gesamtdeutschen Aufschwung führte es nicht.
Für die meisten DDR-Frauen waren die 1990er Jahre eine Zeit, in der sie unter schwierigsten Bedingungen, ihre und das Leben ihrer Familie zu organisieren hatten. Zu DDR-Zeiten konnten Frauen ein Gutteil ihres Selbstbewusstseins daraus schöpfen, trotz widriger Umstände alles „gemeistert“ zu haben, was vielen ostdeutschen Frauen nun zum Vorteil gereichte. Einige DDR-Frauen nahmen die erstmalige Chance wahr, sich aktiv an der Entstehung einer Zivilgesellschaft, von Runden Tischen, Parteien oder Gewerkschaften zu engagieren. Frauen aus der DDR besetzten sogar kurzzeitig, bis sich alles wieder „normalisierte“, Plätze in der Hierarchie, die bislang Männern vorbehalten waren. So viele weibliche Betriebsratsvorsitzende wie 1990 hatte die Bundesrepublik noch nicht gesehen (Renate Hürtgen, FrauenWende WendeFrauen, 1996). Es waren vor allem soziale Probleme, für die sich diese aktiven Frauen zuständig fühlten; nur wenige fanden den Anschluss an die feministische Frauenbewegung. Die im Vergleich zum Westen homogenere Gruppe der DDR-Frauen differenzierte sich mit der Wende 1989/90 aus. Das verbreitete Klischee von „der Ostfrau“ ignoriert diese neue Realität der Gruppe der Frauen im Osten Deutschlands.