Der Preisstifter

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Günter Reimann - Leben und Werk

Günter Reimanns Lebens und Werk steht - wie wohl selten in heutiger Zeit - in seinem eingreifenden Tätigsein für dieses Saeculum. 1904 geboren, führte ihn sein Lebensweg in das Zentrum der »Jahrhundertfragen«. Mit dem Ersten Weltkrieg, von den Zeitgenossen als weltumstürzende Katastrophe begriffen, stellte sich an dessen Ende erstmals real die Frage nach der Ablösung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Erfahrung »sozialisierte« den jungen Günter Reimann und führte ihn in die Reihen der sozialistischen, später der kommunistischen Jugendbewegung. Seit 1924 Mitglied der KPD, gehörte Günter Reimann zu jenen deutschen Kommunisten, die sich der seit dem Tode Lenins zunehmenden und mit dem Ende der zwanziger Jahre übermächtigen Instrumentalisierung der KPD durch die KPdSU Stalins widersetzten. Die Einsicht in die Überlebensfähigkeit des totgeglaubten kapitalistischen Systems einerseits und das Wissen um die Gefahr seiner Pervertierung durch den Faschismus andererseits prägten die Ambivalenz und Widersprüchlichkeit nichtorthodoxen kommunistischen Denkens dieser Zeit.

In zunehmendem Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Orthodoxie analysierte der studierte Betriebs- und Volkswirtschaftler den Kapitalismus seiner Zeit mit den Instrumenten der Marxschen Theorie. Als Wirtschaftsredakteur der »Roten Fahne« von 1925 bis 1930 stand er für jene Kräfte innerhalb des deutschen Kommunismus, die, in der Tradition Rosa Luxemburgs stehend, den Marxschen Theorietyp schöpferisch auf die Analyse des Kapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts anwandten. Studienreisen durch die Sowjetunion Anfang der dreißiger Jahre führten ihn zu der schmerzlichen Einsicht, daß der Staats-»Sozialismus« Stalinscher Prägung mit seinem Versuch der nachholenden Industrialisierung westlichen Typs in die Sackgasse führen mußte.

Seit dem 30. Januar 1933 im Widerstand gegen den deutschen Faschismus, zwangen ihn Herkunft und Bekanntheit in die Emigration. Als unabhängiger Analytiker des Finanzkapitalismus gelang es Günter Reimann, sich als Spezialist für die Erforschung des internationalen Finanzkapitals, seine Geld- und Kapitalmärkte zu etablieren. Als Herausgeber und Chefredakteur von »International Reports on Finance and Currenciers« entwickelte sich Reimann zum renommierten New Yorker Experten des Finanz- und Weltwährungssystems. Seit dem Verkauf von »International Reports« an »Financial Times« wirkt er als unabhängiger Publizist.

»Ich bin vielen Risiken im Leben entgangen, bewußt und unbewußt. Oft war es ›Zufall‹, daß ich überlebte. Es gibt Zufälle anderer Art, die wenn ich sie erzähle, unglaublich erscheinen und die ich mir für meine Autobiographie aufspare. Vielleicht erscheint es so, daß ich zu viele Zufälle erlebt habe. [...] Als Lebenserfahrung will ich hinzufügen: Wann immer ich opportunistisch die Wahl des ›kleineren‹ Übels oder des Vermeidens eines Risikos entgegen meiner Überzeugung einging, erwies sich, daß sich die Folgen gegen mich kehrten und für mich höchst unbefriedigend waren. Wenn ich aber konsequent entsprechend meiner Überzeugung handelte, konnte ich vorwärts schreiten im praktischen Leben. Dann findet man die solidarischen Menschen, die groß im Denken und großzügig im Handeln sind, leichter. Man muß nur selbst überzeugt sein und konsequent handeln! Das ist eine ›Jahrhunderterfahrung‹, die das Geheimnis enthält, im Leben ›Erfolg‹ zu haben.

Den Menschen, die mir sagen: ›Du bist im Leben sehr erfolgreich gewesen‹, mußte ich antworten, daß das nicht so ist. Das Leben war für mich eine große Enttäuschung. Als junger Mensch hatte ich geglaubt mitzuhelfen, die Welt zu verändern, eine neue Zukunftswelt für den ›besseren‹ Menschen zu schaffen, und was ist geschehen bzw. dabei herausgekommen? Daß ich jetzt in relativem Komfort lebe, kann ich nicht als Lebenserfolg ansehen. Ich glaube dennoch an den großen Fortschritt der Menschen, in Abschnitten, die oft rückwärts gehen. Ich glaube aber mit Kant, Hegel und Marx, daß die Grundtendenzen für die menschliche Gesellschaft ein Vorwärtsschreiten zu mehr Menschsein und Menschlichkeit sind. Auf die Person bezogen: Ich habe winzig wenig zum Fortschreiten der Menschheit beigetragen, und der Beitrag wird vermutlich nicht in Erscheinung treten.

Wenn ich dennoch mit Neugierde die Zukunft erleben will, dann, weil ich an den Fortschritt à la longue glaube, außerdem, weil ich von nie befriedigter Neugierde erfüllt bin. Das gilt in allen Lebenslagen.«

(Günter Reimann: Zwischenbilanz. Ein Zeuge des Jahrhunderts gibt zu Protokoll. Hrsg. Von Klaus Kinner und Manfred Neuhaus. Frankfurt Oder 1994. S. 5 und 48f.)

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Auszeichnung Günter Reimanns mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik

Unser Vereinsfreund Günter Reimann ist am Donnerstag, dem 19. Februar 2004, mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen überbrachte ihm die folgenden Glückwünsche:

Günter Reimann

Manhasset, Long Island

Leipzig, den 19. Februar 2004

Lieber Günter,
mit großer Freude haben wir von Deiner hohen Auszeichnung erfahren.

Der langjährige Vorsitzende unserer Stiftung, unser gemeinsamer Freund Manfred Neuhaus,überbrachte die Nachricht von der bevorstehenden Auszeichung auf der Mitgliederversammlung unseres Vereins und löste damit bei allen große Freude und Beifall aus. Ich kann Dir also mit Fug und Recht im Namen der Mitglieder unserer Stiftung gratulieren. Wir sind stolz darauf, daß es gelungen ist, mit Dir einen unorthodoxen linken Denker für seine "imponierende Lebensleistung" in Vorschlag zu bringen und der deutsche Bundespräsident Johannes Rau selber unorthodox genug war, diesem Vorschlag zu folgen. Wird doch damit ein Leben gewürdigt, das immer quer zum mainstream verlief, das für linkes, unabhängiges Denken steht.

Die Mitglieder unserer Stiftung und auch ich ganz persönlich denken gern an Deine Besuche in Leipzig und die vielen anregenden Gespräche. Es wäre eine große Freude, Dich wieder bei uns begrüßen zu können.

Wir wünschen Dir vor allem Gesundheit und grüßen Dich an Deinem Ehrentag voller Freude und Bewunderung.

Im Namen aller dreihundertfünfzig Vereinsfreunde

Klaus Kinner

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Im "Neuen Deutschland" vom 21./22. Februar 2004, S. 9, würdigte Dieter Janke die Verdienste Günter Reimanns

Verdienstorden an Günter Reimann

Ehrung für den Finanztheoretiker kurz vor seinem 100. Geburtstag

Der kommunistische Dissident und unorthodoxe Marxist Günter Reimann hat am Donnerstag dieser Woche den Verdienstorden der Bundesrepublik erhalten.

Menschen, die ihren 100. Geburtstag feiern, sind Ausnahmeerscheinungen. Wenn sie gar, wie der in Manhasset bei New York lebende Publizist, Wirtschafts- und Finanztheoretiker Günter Reimann, mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland geehrt werden, darf man den Jubilar wohl als Unikat bezeichnen. Bei dem am 13. November 1904 als Hans Steinicke im uckermärkischen Angermünde geborenen Marxisten verbieten sich Vergleiche zu anderen Lebensläufen ohnehin per se. Reimann hat sich in dem mehr als bewegten 20. Jahrhundert immer materielle wie geistige Unabhängigkeit bewahrt. Von Freunden wie Widersachern gleichermaßen wurde ihm ob der Lebensleistung Hochachtung entgegengebracht.

Reimann, als junger Kommunist der Berliner Gestapo ebenso knapp entkommen wie dem Moskauer NKWD, gehört zu jener Spezies, die, zumal wenn sie jüdischer Herkunft war, viel Glück brauchte, um das vergangene Jahrhundert zu überleben.

"Ich meine, ein Zufall ist ein Zufall", resümierte er später. "Fünf Zufälle sind eine Tendenz, zehn ein Gesetz. Bei mir hat es viele Zufälle gegeben."

Die gesellschaftlichen Krisen führten den jungen Wirtschaftswissenschaftler in den zwanziger Jahren zur KPD, wo er sein Pseudonym Günter Reimann annahm. Er schrieb für das Feuilleton der "Roten Fahne". In dem Maße, wie der Einfluss Moskaus auf die deutsche Partei zunahm, begann für den selbstbewussten Journalisten der Entfremdungsprozess, der Mitte der dreißiger Jahre zum offenen Bruch und zum Parteiaustritt führte.

Das Jahr 1932 wurde nach Günter Reimanns Überzeugung für Berlin wie auch für Moskau zum Schicksalsjahr. In Deutschland bahnte sich die Übernahme der politischen Macht durch die Hitler-Partei an. In der Sowjetunion gelang es dem schwer angeschlagenen Stalin, eine tiefe Vertrauenskrise für den Ausbau seiner Position zu entscheiden. Mehrere Reisen durch das Land hatten Reimann zur Überzeugung kommen lassen, dass der sowjetische Weg zu keiner lebensfähigen Alternative zum Kapitalismus führt.

Über Prag, Wien, Paris und London gelangte der Emigrant im Herbst 1938 schließlich in die USA. Nach dem Kriegsende, das Reimann in New York erlebte, nutzte er seine Verbindungen zu Regierungskreisen, den "Trading with the Enemy Act", der Paketsendungen nach Deutschland verbot, zu Fall zu bringen. Damit wurde die legendäre Care-Paket-Aktion zu Unterstützung der deutschen Bevölkerung möglich. Er selbst kehrte trotz eines Rates von Herbert Wehner, den er seit den dreißiger Jahren kannte, nicht nach Deutschland zurück. Reimann erwarb die US-Staatsbürgerschaft und gründete 1946 die Wochenzeitschrift "International Reports on Finance and Currencies", das er zu einem zentralen Informationsmedium für die Hochfinanz in vielen Ländern entwickelte. Auf die Frage, ob er damit als Marxist zum Klassenfeind übergelaufen sei, antwortete er später, das Gegenteil sei der Fall:

"Ich habe den Glauben der Kapitalisten an ihr System unterminiert - und dafür haben sie mir 2000 Dollar gezahlt."

1983 verkaufte Reimann den Report an die "Financial Times".

Aber auch das Wirtschaftsgeschehen hinter dem "Eisernen Vorhang" verfolgte Reimann aufmerksam. Die DDR ausgenommen, besuchte er die wichtigen Staaten im sowjetischen Einflussbereich. Vor dem Hintergrund der Reformbemühungen in den sechziger Jahren stellte er befriedigt fest: "Im Osten weht Westwind." Mit der Ära Gorbatschow und der durch ihn eingeleiteten Reformen sah Günter Reimann frühzeitig das Ende des Staatssozialismus dämmern, der Umbruch von 1989/90 kam für ihn nicht überraschend.

1993 erschien sein viel beachtetes Buch "Die Ohnmacht der Mächtigen". Den begonnenen Umbruch beschreibt er hier mit den Worten:

"Eine neue Weltordnung ist im Entstehen. Sie befindet sich in einem Zwischenstadium, das als Nicht-Weltordnung erscheint und eine Übergangsgesellschaft darstellt. Aber in welche Richtung wird es sich entwickeln? Es gibt Ansätze zu neuen Gesellschaftsstrukturen. Wo sie zuerst auftreten, ist ungewiss."

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Grußwort von Manfred Neuhaus zur Filmmatinee
der Rosa-Luxenburg-Stiftung Sachsen
aus Anlaß des 100. Geburtstages von Günter Reimann

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freunde und Verehrer von Günter Reimann,

eine Filmmatinee am Vormittag ist nicht alltäglich, ungewöhnlich ist auch ihr Anlaß - der 100. Geburtstag eines intellektuell noch quicklebendigen Kollegen und Freundes. Noch viel ungewöhnlicher jedoch sind Leben und Werk unseres Jubilars. Denn Günter Reimann ist, wie wohl er selbst dies immer dementieren wird, ein außergewöhnlicher Mensch. Eine zu seinem 90. Geburtstag veröffentlichte Anthologie trägt den nicht ohne Bedacht gewählten Titel "Zwischenbilanz. Ein Zeuge des Jahrhunderts gibt zu Protokoll".

In einer erstmals 1997 aufgeführten Filmdokumentation hat Dirk Külow versucht, den konfliktreichen Jahrhundertweg dieser Zeitgenossenschaft, nämlich die Verwandlung des Angermünder Kaufmannssohnes Hans Steinicke in den weltläufigen Homme des Lettres Günter Reimann nachzuzeichnen. Wie wir gleich sehen werden, geschieht dies im Dialog des Autors und Regisseurs mit seinem Helden beim gemeinsamen Besuch der wichtigsten Schauplätze. Urteilen Sie bitte selbst, ob es gelungen ist, der Dramatik dieses außergewöhnlichen Lebensweges mit den Stilmitteln dokumentarischer Filmsprache beizukommen.

Mit Ihrer gütigen Erlaubnis möchte ich aber zuvor noch ergründen, woraus die Faszination erwächst, die von Günter Reimann ausgeht.

Unser Jubilar war und ist ein brillanter Analytiker. Seit unserem ersten Zusammentreffen schätze ich seinen Scharfsinn, eine ungeachtet des biblischen Alters schalkhafte Neugier und seltene intellektuelle Redlichkeit. Zwei Jahrzehnte bevor wir uns in Leipzig persönlich kennenlernten, stieß ich bei einer Gelegenheitslektüre in der von seinem einstigen Journalistenkollegen Jürgen Kuczynski begründeten Zweimonatsschrift "Sowjetwissenschaft" auf den "westdeutschen Sowjetologen" Günter Reimann und wurde als Leser gleichsam Augenzeuge, wie eines seiner bedeutendsten Werke als ideologische Konterbande in den Orkus befördert werden sollte. Unseren Jubilar hat dies, wenn er es denn zur Kenntnis genommen haben sollte, nicht darin gehindert, die unter dem Titel "Der Rote Profit" entfaltete Analyse des realsozialistischen Wirtschaftssystems zu vollenden: Er diagnostizierte es, nicht ohne dafür die Deutungskraft von Kategorien des Marxschen Denkens fruchtbar zu machen, als

"Staatskapitalismus ohne Marktkonkurrenz und Marktpreise" und prognostizierte als einer der ersten die Systemimplosion von 1989/1990. Nach dem Abzug der sowjetischen Truppenkontingente aus Afghanistan war der Fall der Mauer für ihn besiegelt, lag der Schlüssel für die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands, man lese seinen hellsichtigen Essay "Perestroika - eine Variante von NEP. Kapitalmangel als endogen nicht lösbares Problem" und staune, in Moskau: "Gorbatschow - oder sein Nachfolger -", so lautet die Quintessenz seiner "Betrachtungen eines ,Dabeigewesenen'" in der "Neuen Zürcher Zeitung" vom 14. Mai 1988, "könnte daher versucht sein, in Anlehnung an Lenin mit aussenpolitischen Initiativen die inneren Probleme der staatlichen Kapitalnot jedenfalls zu mildern. Die Teilung Deutschlands erleichtert dabei die Position Moskaus zusätzlich. Gorbatschow scheint sich dessen bewußt zu sein. Er weiss, dass es vor allem von der Aussenpolitik Moskaus und nicht so sehr von der Washingtons, Londons oder Paris' abhängt, ob Fortschritte im Hinblick auf eine Wiedervereinigung Deutschlands gemacht werden."

Günter Reimann besitzt nicht nur einen bewunderungswürdigen analytischen Verstand. Er ist ein furchtloser Mann. Als Mitglied einer konspirativen Vereinigung oppositioneller Kommunisten und Sozialdemokraten hat er nach dem Reichstagsbrand die illegale Zeitschrift "Gegen den Terror" herausgegeben und Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisiert.

Im britischen und amerikanischen Exil leistete er mit vielbeachteten Büchern und Presseveröffentlichungen einen bedeutenden Beitrag zur Auseinandersetzung mit beiden totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts.

In besonderer Weise hat mich der Humanismus und Patriotismus unseres Freundes fasziniert. Er hat dem Land, das ihm die Tür wies und das einen Zivilisationsbruch begangen hat, dem im Auschwitz auch seine Lieblingsschwester Margot zum Opfer gefallen ist, nicht den Rücken gekehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg half Günter Reimann, wie seine Korrespondenz mit Herbert Wehner dokumentiert, nicht nur vielen Deutschen mit Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung, sondern trug in Washington mit Pastor Albion Beverage dazu bei, daß der Trading with the Enemy Act aufgehoben wurde. Damit standen der legendären Care-Paketaktion keine juristischen Hürden mehr im Wege. In Anerkennung dieser besonderen Verdienste hat Bundespräsident Johannes Rau dem Jubilar auf unseren Vorschlag am 11. Dezember 2003 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik verliehen.

Günter Reimann hält was heute mitunter und vielleicht sehr zu unrecht als altbacken gilt, einiges von Grundsätzen, und er hat Visionen. Man müsse doch auch utopisch sein, um realistisch sein zu können: Wenn man nicht mehr erreichen will, als man kann, erreicht man nie, was möglich ist. Mit Kant, Hegel und Marx glaubt er, daß die Grundtendenz der Gesellschaft ein Vorwärtsschreiten zu mehr Menschsein und Menschlichkeit sei.

Als der Epochenwechsel vor anderthalb Jahrzehnten alles zur Disposition stellte, plädierte er für das Unabgegoltene in der Vision des jungen Marx, daß nämlich

"an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen [...] eine Assoziation (tritt), worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".

Es hat mich sehr beeindruckt, daß er dieses Plädoyer mit der bohrenden Frage verknüpft: Wie kann ein politisches System humane Werte verwirklichen, ohne sie bei der Durchsetzung fundamental zu verletzen? Intellektuell immer wach und unabhängig im Denken, hat Günter Reimann früher als andere Zeitgenossen den Terror Stalins erkannt und für sich Konsequenzen gezogen. Das von Hermann Weber und Andreas Herbst bearbeitete "Biographische Handbuch 1918 bis 1945" dokumentiert das Lebensschicksal von 1402 führenden deutschen Kommunisten: 222 wurden Opfer des Nationalsozialismus, 178 der Stalinschen "Säuberungen", nur zwei weilen noch unter uns - neben unserem Jubilar der als Lizenzträger und Direktor der DEFA vor seinem Bruch mit der SED bekannt gewordene Karl Hans Bergmann, Jahrgang 1910.

In seinem Geburtstagsinterview für die "Leipziger Volkszeitung" antwortet Günter Reimann auf die erstaunliche Frage "Was sind Sie für ein Kommunist?":

"Man sagt wohl, ein antidokrinärer. Ich halte also Marx schon für einen außerordentlich klugen Denker."

Der Jubilar gilt als einer der besten Kenner von Marx' "Kapital" und hält als unorthodoxer Denker aber auch viel davon, was Marxens Dichterfreund Ferdinand Freiligrath bereits 1860 über das Spannungsverhältnis von Parteidisziplin und künstlerischer Autonomie zu Protokoll gegeben hat, nämlich:

"Meiner, u. der Natur jedes Poeten tut die Freiheit Noth! Auch die Parteih ist ein Käfig u. es singt sich, selbst für die Parteih, besser draus als drin." (MEGA III/10. S. 320.)

Wie Sie wissen, gilt für den Berliner die Maxime: "Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser geht es ohne ihr." Wer Glück hatte, Günter Reimann persönlich kennen zu lernen, wird das Gegenteil bezeugen, von seinem Charme und seiner Noblesse berichten. Als er, in der Gründungsphase unserer Stiftung, mit meinen jüngeren Kollegen an einem seiner letzten großen Werke, "Die Ohnmacht der Mächtigen", arbeitete, stand er mit nicht wenigen Vereinsmitgliedern und Leipziger Wissenschaftskollegen in einem intensiven Gedankenaustausch. Nicht nur Jürgen Becher war erstaunt und beglückt, als ihm unser Jubilar schrieb:

"Ich erwarte Ihre freimütige Kritik [...] Ich selber bin nie mit meiner Arbeit wirklich zufrieden."

Und auch dies lehrt uns Günter Reimann: Wer noch zuhören kann, der bleibt jung. Die Lernfähigkeit des Einzelnen und des Ganzen entscheidet über das Schicksal künftiger Generationen.

Die Rosa-Luxenburg-Stiftung Sachsen verdankt Günter Reimann Außerordentliches: Zuspruch und Ermutigung, Solidarität und Freundschaft, kühne Ideen und fruchtbare Debatten sowie die Möglichkeit, junge kritische Köpfe mit dem von ihm an seinem 90. Geburtstag gestifteten Preis zu fördern.

Vivat Günter Reimann!

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Jüdisch-bürgerlicher unorthodoxer Marxist

Der Finanzexperte Günter Reimann ist tot

ND vom 07.02.2005

Dieter Janke

Ein originärer Charakter wie Günter Reimann, 1904 in Angermünde als Hans Steinecke in einer jüdisch-bürgerlichen Familie geboren und unorthodoxer Marxist, konnte das vergangene Jahrhundert wohl nur in den USA ohne größere Schäden überstehen. In der Nacht zum vergangenen Sonnabend verstarb der 100-Jährige in Manhasset bei New York. Von Freunden wie auch von Widersachern gleichermaßen wurde dem ebenso originären wie produktiven Publizisten und Finanzexperten stets Hochachtung entgegen gebracht. Die gesellschaftlichen Konflikte führten den jungen Wirtschaftswissenschaftler in den zwanziger Jahren zur KPD. Sein analytisches Talent nutzte er als Wirtschaftsredakteur der Parteizeitung "Rote Fahne", geriet aber bereits in erste Konflikte zu der sich immer strenger an Moskauer Direktiven orientierenden Parteiführung. Ausgedehnte Studienreisen durch die Sowjetunion und Gespräche mit unangepassten Linken ließen bei Reimann schließlich bereits Anfang der dreißiger Jahre die bittere Einsicht reifen, dass das Stalinsche Sozialismusmodell in die Sackgasse führen musste. Nur knapp dem Zugriff durch die Gestapo wie auch dem des NKWD entkommen, gelangte er als Emigrant nach Stationen in Prag, Wien, Paris und London schließlich 1938 in die USA.

Trotzdem ihm nach Kriegsende Herbert Wehner zur Rückkehr nach Deutschland riet, erwarb Reimann die US-amerikanische Staatsbürgerschaft. Keinen unwesentlichen Einfluss auf die Entscheidung wird eine geniale Idee Reimanns gehabt haben, mit der er sich in den folgenden Jahren die finanzielle Unabhängigkeit sicherte. Vor dem Hintergrund des zusammengebrochenen Finanzinformationssystems gründete er 1946 die Wochenzeitschrift "International Reports on Finance an Currencies", die er in den Folgejahren zum wichtigsten Informationsmedium der internationalen Hochfinanz entwickelt und 1983 an die "Financial Times" verkaufte.

In den sechziger Jahren beobachte er mit Interesse die wirtschaftspolitischen Reformbestrebungen im sowjetischen Einflussbereich. Eigene Reisen, bei denen er die DDR aussparte, führten Günter Reimann zu dem Schluss: "Im Osten weht Westwind". Man sei dabei gewesen, marktwirtschaftliche Mechanismus und ein Finanz- und Banksystem im westlichen Sinne zu schaffen. Diese Entwicklung aber berge Tendenzen in sich, die auch für die Machthaber zu überraschenden Ergebnisse führen könnten, resümiert er, die Imploitation des Staatssozialismus weitsichtig vorwegnehmend. Den Folgen jener Zäsur auch für die kapitalistische Hemisphäre galt Reimanns Interesse in den neunziger Jahren. Die Menschheit befinde sich derzeit in einer "Übergangsgesellschaft", deren Richtung jedoch noch nicht klar erkennbar sei.

Günter Reimann war Mitglied und Förderer der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen. Unter anderem, weil er sich durch die Unterstützung der Carepaketaktion nach dem zweiten Weltkrieg für die "deutsch-jüdische Aussöhnung verdient gemacht hat, erhielt er 2004 das Bundesverdienstkreuz erster Klasse.

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