Nachricht | "Neue" politische Unübersichtlichkeiten

Dokumentation der Veranstaltungsreihe: "Neue" politische Unübersichtilichkeiten

Im Oktober und November 2022 führte die Rosa-Luxemburg-Stiftung die Veranstaltungreihe "Neue" politische Unübersichtlichkeiten mit Veranstaltungen in Leipzig, Dresden und Chemnitz durch. Die Aufzeichnungen der Veranstaltungen sind online auf unserem YouTube Kanal zu finden.

Spätestens seit dem Einzug der extrem rechten AfD in den Bundestag scheint es, als habe sich die politische Landschaft in Deutschland grundlegend verändert. Rassistische, sozialdarwinistische und antifeministische Narrative begegnen uns verstärkt in Protestbewegungen, den Parlamenten und auf Social Media; Ideologien gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit finden weiter Einzug in den gesellschaftlichen Diskurs.

Nicht erst seit Beginn der Corona-Krise wird deutlich, dass Vorstellungen der extremen Rechten auch mit der Agenda vermeintlich linker Akteur*innen und Gruppen vereinbar sind. Teile der extremen Rechten greifen die soziale Frage auf und nähern sich linken Aktionsformen an, um sie mit ihren Inhalten zu besetzen. Sie propagieren einen völkischen „Antikapitalismus“ oder „solidarischen Patriotismus“. Gleichzeitig bewegen sich konservative Kräfte inhaltlich auf den neoliberalen und marktradikalen Teil der AfD zu, in dem Glauben dadurch verlorene Wähler*innen zurückzugewinnen. Die Linien vorgeblich trennbarer politischer Gruppen scheinen sich zunehmend aufzulösen. Es stellt sich allerdings die Frage: sind diese Entwicklungen tatsächlich ein neues Phänomen oder lassen sich historische Kontinuitäten nachweisen?

Um Licht ins Dunkel dieser ideologischen Wirrungen zu bringen, veranstaltet die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen die Reihe „Neue“ politische Unübersichtlichkeiten.

Wir wollen den historischen Querfrontbegriff und aktuelle, vermeintlich „antikapitalistische“ Bestrebungen einiger extrem rechter Akteur*innen analysieren. Wir werfen einen Blick auf die Radikalisierung konservativer Kräfte und die Anschlussfähigkeit von Ideologien gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit an die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“. Wir beschäftigen uns mit Ideologien, bei denen vermeintlich klar definierte Grenzen zwischen „links“ und „rechts“ verschwimmen und zeigen auf, wo in als links wahrgenommenen Ideologemen repressives, autoritäres Potenzial verborgen liegt. So soll eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschen- und Weltbild ermöglicht werden.

Um zu den Mitschnitten der einzelnen Veranstaltungen zu gelangen, klicken sie bitte auf den jeweiligen Veranstaltungstitel


06.10.2022
"Weder links, noch rechts?" Das Konzept Querfront

Mit Volkmar Wölk (Autor)

Ein Gespenst geht um in Deutschland. Das Gespenst der „Querfront“. Alles und nichts erscheint als Querfront. Wenn Linke gegen die soziale Kälte mit einem heißen Herbst protestieren wollen, gleichzeitig Rechte gegen die Demokratie mobilisieren: Querfront.

Die Bildung einer Querfront ist ein politisches Konzept, ein Konzept der extremen Rechten. Es ist stets verbunden mit dem Versuch der Verknüpfung der sozialen Frage mit dem Nationalismus. Die Spur dieses Konzeptes zieht sich vom Frankreich des Jahres 1911 mit dem „Cercle Proudhon“ über die antidemokratischen Denker der Weimarer Republik bis zur Neuen Rechten in der Gegenwart. Und es fand teilweise Widerhall in der Linken: beim Schlageter-Kurs der historischen KPD ebenso wie beim „Friedenswinter“ von Teilen der Friedensbewegung in der Gegenwart.

Volkmar Wölk (Grimma) bietet einen historischen Abriss und eine Ideologieanalyse dieses Ansatzes.


27.10.2022
Das Comeback von Sozialdarwinismus und Biologismus

Mit Peter Bierl (freier Journalist)

Die Maßnahmen gegen das Corona-Virus würden nur Menschen retten, die aufgrund ihres Alters sowieso bald sterben müssen, erklärte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer. Der Publizist Jakob Augstein meinte, nur eine Minderheit sei ernsthaft gefährdet: „Die Politik hat beschlossen, zugunsten dieser Minderheit der Mehrheit sehr schwere Lasten aufzubürden.“ So schlimm sei das Virus nicht, gefährdet seien vor allem die Alten, schrieb Anselm Lenz, Organisator der ersten Proteste gegen Corona-Maßnahmen.

In einer Gesellschaft, in der alle in Konkurrenz zueinanderstehen und ständig Gewinner:innen und Verlierer:innen sortiert werden, ist Sozialdarwinismus die halbbewusste Alltagsreligion. Seit Jahrzehnten erklärt der australische Bioethiker Peter Singer Behinderte, Demente und Neugeborene für Menschen zweiter Klasse, verharmlost Euthanasie als Erlösung und empfiehlt sie, um Geld zu sparen. Thilo Sarrazin behauptet Migrant:innen und Hartz-IV-Empfänger:innen hätten minderwertiges Erbgut. Der Staat solle bio-deutschen Frauen aus der akademischen Mittelschicht mehr Geld geben, damit sie neben Studium und Karriere Kinder kriegen. Die Giordano-Bruno-Stiftung beschreibt in ihrem „Manifest für einen evolutionären Humanismus“ (2005) den Menschen als Bioroboter, preist Kapitalismus als natürliche Wirtschaftsweise und bezeichnet es als männliches Vorrecht Sex mit vielen Frauen haben zu können, abgeleitet aus der Größe der Hoden.

Solche Stimmen kommen nicht von genuin rechten Personen und Gruppen: Palmer gehört den Grünen an. Sarrazin trieb als SPD-Finanzsenator in Berlin den Sozialabbau voran, Singer ist prominenter Vordenker des Veganismus und plädiert für eine darwinistische Linke, die Ungleichheit als natürlich akzeptieren soll. Die Giordano-Bruno-Stiftung, die Singer mit einem Ethik-Preis auszeichnete, organisiert antiklerikale Kampagnen und versteht sich als linksliberal.

Sie alle sind Wiedergänger einer darwinistischen ‚Linken‘, deren Geschichte und Gegenwart der Referent Peter Bierl in seinem neuen Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ seziert. In dieser Veranstaltung skizziert und diskutiert er seine Befunde.

Peter Bierl arbeitet als freier Journalist. Der Vortrag basiert auf seinem neuesten Buch Unmenschlichkeit als Programm . Zuletzt veröffentlichte er „Die Legende von den Strippenziehern. Verschwörungsdenken im Zeitalter des Wassermanns“ (2021), „Die Revolution ist großartig. Was Rosa Luxemburg uns heute noch zu sagen hat“ (2020), „Keine Heimat nirgendwo. Eine linke Kritik der Heimatliebe“ (2020) sowie das „Einmaleins der Kapitalismuskritik“ (2018).


01.11.2022
Radikalisierter Konservatismus

Mit Natascha Strobl (Autorin, Politikwissenschaftlerin) Moderation Anika Taschke (Referentin Neonazismus und Strukturen / Ideologien der Ungleichwertigkeit, Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Von der Krise der Sozialdemokratie ist allerorten die Rede. Doch auch viele traditionsreiche Mitte-rechts-Parteien befinden sich im Niedergang oder zumindest in einer Zwickmühle: Sollen sie sich für progressive urbane Milieus öffnen? Oder lieber ihr konservatives Profil schärfen?  Während Angela Merkel für das eine Modell steht, repräsentieren Politiker wie Donald Trump oder Sebastian Kurz das andere. Sie sind Vertreter eines radikalisierten Konservatismus.

Natascha Strobl analysiert ihre rhetorischen und politischen Strategien. Sie zeigt, wie sie Ressentiments bedienen, um ihre Anhängerschaft zu mobilisieren, oder eigene Narrative erschaffen, um »Message Control« auszuüben und Kritik als Fake News abzutun. Statt inhaltlicher Auseinandersetzung suchen sie die Konfrontation. In ihren eigenen Parteien reduzieren sie die Demokratie, setzen auf kleine Beraterzirkel und Personalisierung. Dabei greifen sie, so Strobl, immer wieder auch auf die Methoden rechtsradikaler Bewegungen und Organisationen zurück.


07.11.2022
Was ist Antikapitalismus von rechts?

Mit Richard Gebhardt (Publizist)

"Querfront", "Solidarischer Patriotismus" oder "Marx von rechts" - mit derlei Buchtiteln haben sich neurechte Autoren in den letzten Jahren der sozialen Frage gewidmet. Dabei wurde im völkisch-nationalistischen Lager erneut der Anspruch auf eine "konservative" Kritik des Kapitalismus erhoben. Wie aber lauten die rechten Antworten auf die soziale Frage - und über welche Besonderheiten verfügt eine solche Kapitalismuskritik? Welche linken Positionen werden hier übernommen und umgedeutet? Und wie sollen demokratische Kräfte auf diese "Diskurspiraterien" von rechts reagieren?

Die Veranstaltung widmet sich anhand von klassischen und aktuellen Schriften aus Deutschland und Frankreich den Entwicklungslinien sowie den besonderen Merkmalen einer Kapitalismuskritik von (neu-)rechts, die als Sonderform einer antiliberalen Kultur- und Dekadenzkritik analysiert werden kann. Der Blick wird somit für die Merkmale einer Kapitalismuskritik geschärft, die die kapitalistische Produktionsweise nicht als Ausbeutungsverhältnis, sondern primär als Auslöser kultureller Zerstörungen begreift.

Richard Gebhardt, Jg.1970, Studium der Politischen Wissenschaft, Soziologie und Philosophie in Aachen und Marburg, lebt und arbeitet als Erwachsenenbildner und Publizist in Köln und Aachen. Zahlreiche Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge zum Thema Fußball und Gesellschaftspolitik, zur politischen Kultur sowie zur alten, neuen und populistischen Rechten in Deutschland unde den USA (u.a. für der rechte rand, Das Argument, jungle world, Zeit-Online und der freitag).


Publikationen zum Thema:

Faschismus in Geschichte und Gegenwart

Ein vergleichender Überblick zur Tauglichkeit eines umstrittenen Begriffs

von Alexander Häusler, Michael Fehrenschild

Die selbsternannte «Neue Rechte» und 1968

Erleben wir gegenwärtig ein «68 von rechts»?

von Jule Govrin

Im Kern faschistisch

Annäherung an einen umstrittenen Begriff

Felix Korsch